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Der deutsche Ernährungswissenschaftler Uwe Knop bezeichnet Essratgeber als Quatsch, Diät-Trends gar für gefährlich. Er plädiert, mehr auf die innere Stimme zu hören – auch wenn diese mal nach Chips und Bier ruft.

Ich habe heute Morgen ausser einem Kaffee nichts gefrühstückt. Und Sie?

Auch nur Kaffee – deren fünf.

Ist das Frühstück nicht die wichtigste Mahlzeit am Tag?

Solche vermeintlichen Wahrheiten von Ernährungsgurus sind das eigentliche Problem. Die Leute haben dann ein schlechtes Gewissen, wenn sie morgens kein ballaststoffreiches Müesli essen. Deshalb ist meine Mission: Faktenbasiert klarmachen, dass man sich keine Gedanken über solchen Quatsch machen muss, sondern 100 Prozent dem eigenen Körper vertrauen soll: Essen Sie nur dann, wenn Sie echten Hunger haben, und nur das, was Ihnen schmeckt und was Sie gut vertragen.

Faktenbasiert? Was sind das für Fakten?

Man muss zwischen der Faktenbasis und der Interpretation derselbigen unterscheiden. Es gibt Tausende von Studien in der Ernährungswissenschaft. Es handelt sich in der Regel um Beobachtungsstudien, die ausschliesslich Vermutungen aufgrund statistischer Zusammenhänge zulassen, aber niemals eine Ursache-Wirkung-Beziehung belegen. Ob es also am Kaffee liegt, dass Kaffeetrinker beispielsweise einen niedrigeren Blutdruck haben, oder aber daran, dass die Studienteilnehmer ausreichend Schlaf, mehr Sex und weniger Stress hatten, das weiss niemand. Ernährungswissenschaft kann keine Beweise liefern, nur wachsweiche Hypothesen, die nicht überprüfbar sind. Ernährungsforschung ist das moderne Glaskugellesen.

Wieso sind Sie dann Ernährungswissenschafter geworden?

Im Studium Ende der 90er-Jahre hat man nichts zur Aussagekraft von Korrelationen gelernt. Dass die meisten Ernährungsregeln unsinnig sind, habe ich erst danach gemerkt. Seither bin ich ein unabhängiger Ernährungswissenschafter, der die Ernährungswissenschaften grundlegend kritisiert – und davon gibt es nicht allzu viele.

Ihre Botschaft «Iss, was du willst» verkauft sich natürlich auch besser als der mahnende Zeigefinger zum gesunden Essen.

Ich stehe mit dieser Meinung nicht alleine da. Auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung räumt inzwischen ein, dass solche Beweise wohl nie erbracht werden können. Sowohl Letztere als auch ihr Schweizer Pendant sind der Ansicht, dass die Einteilung in gesunde und ungesunde Lebensmittel keinen Sinn ergibt.

Ist die Masse der Ernährungsratgeber Ausdruck von Ratlosigkeit?

Ja, aber auch das «publish or perish» spielt eine Rolle – publiziere oder verschwinde: Der Druck zu publizieren ist im Forschungsbetrieb oft hoch. Und mit den vielen Korrelationen, die man kombinieren kann, kriegt man immer ein Resultat, das irgend­einer Lobbygruppe dient oder einem Journalisten eine Schlagzeile wert ist. Das ist auch der Grund, wieso es in der Ernährungswissenschaft derart viele gegensätzliche Studien und Weisheiten gibt. Mal ist ein Glas Rotwein pro Tag gesund, mal ungesund – je nach Studie, je nach Absender, je nach Interpretation.

Wieso gibt es in der Ernährungswissenschaft keine klinischen Studien wie in der Medizin?

Weil solche plazebokontrolliert und doppelblind – weder Arzt noch Teilnehmer wissen, was sie bekommen – sein müssen. Solche Untersuchungen kann und wird es in der Ernährungswissenschaft aber nicht geben, denn Vergleichsstudien mit Plazebo-Nahrungsmitteln sind nicht realisierbar: Die Wissenschafter können nun mal niemanden doppelblind fleischlos ernähren und ein Steak-Plazebo auf den Teller legen, um zu überprüfen, ob Fleisch Diabetes oder Krebs fördert. Genauso unmöglich ist die Randomisierung, der wichtigste Aspekt bei Studien: Die zufällige Verteilung der Probanden in die Studiengruppen, damit diese vergleichbar sind. Denn sagen Sie einem Vegetarier mal, er sei jetzt 15 Jahre in der Fleischgruppe, und einem Steakfreund, er sei in die Vegetariergruppe gelost worden. Keine Chance. Man weiss daher nicht, was gesundes Essen ist. Und wird es auch nie wissen.

Was kann die Ernährungswissenschaft denn leisten?

Sie sollte die Menschen dazu ermutigen, intuitiv und selbstbewusst zu entscheiden, was auf den Teller kommt. Ausserdem sollte sie keine Pauschal­erkenntnisse mehr absondern. Im Zentrum sollte der Einzelne stehen. Jeder Mensch ist und isst anders. Nehmen wir die Ballaststoffe: Nicht jeder verträgt diese vermeintlich supergesunden, unverdaulichen Nahrungsbestandteile in den gebetsmühlenartig gepredigten Höchstmengen. Manche landen dann mit Blähungen und Krämpfen beim Gastro­enterologen. Und diese Magen-Darm-Fachärzte erzählen immer wieder, dass junge Patientinnen mit Magenproblemen ihre Empfehlungen, auf die sogenannt gesunde Ernährung zu verzichten, in den Wind schlagen: Was nicht sein darf, kann nicht sein.

Nur weil es nicht bewiesen ist, muss es nicht falsch sein. Will heissen: Im Zweifelsfall lieber ein bisschen mehr Gemüse als Chips.

Es gibt in der Ernährung keine Zweifelsfälle. Es gibt nur die eine relevante Frage: Was schmeckt mir, und was vertrage ich gut? Ob das Chips sind oder Gemüse, spielt keine Rolle. Wenn Sie viel Hunger haben, wählen Sie intuitiv kalorienreich, wenn der Magen nur leise knurrt, reichen auch oftmals ein Apfel und eine Karotte. Wenn ein Kind Brokkoli ausspuckt, dann braucht sein Körper dieses Gemüse nicht. Es wird sich die nötigen Nahrungsstoffe auf einem anderen Weg holen.

«Was ist denn zu viel? Das weiss kein Mensch.»

Ich habe immer Lust auf Pizza und Bier. Gebe ich mich dem hin, habe ich in einem Jahr 20 Kilo Übergewicht.

Bis dato gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis, dass irgendwelche Lebensmittel oder gar einzelne Inhaltsstoffe gesunde Menschen krank oder dick machen. Und was ist denn zu viel? Das weiss kein Mensch. Das ist immer individuell. Natürlich ist es nicht gesund, sich vollzustopfen, bis man schwer übergewichtig ist. Aber niemand ernährt sich nur von Pizza und Bier. Unser Körper braucht verschiedene Nährstoffe, und wenn wir nicht essgestört sind, hören wir von selbst auf ihn.

Gibt es denn gar keine Ernährungstipps mit Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit? Dass Fertigprodukte ungesund sind etwa?

Nein, ausser: Wer nichts isst, stirbt. Und wer sich permanent hungerfrei den Bauch vollstopft, um seine Seele zu füttern, Stichwort Emotional Eating, der wird auch Probleme bekommen. Aber Fertigprodukte sind per se nicht ungesund, ich sehe sie als Bereicherung im Gesamtsortiment.

Was ist mit Wasser – das ist doch eindeutig gesund?

Hat man Durst, soll man trinken. Wasser ist ein gutes Getränk. Aber 2-Liter-Regeln und andere Empfehlungen sind Unfug.

Eigentlich propagieren Sie ja nichts anderes als eine ausgewogene Ernährung.

Richtig. Aber genauso wenig, wie es eine gesunde Ernährung für alle gibt, gibt es eine ausgewogene Ernährung für alle. Ausgewogene Ernährung ist eine hohle Phrase, die im Mund von Ernährungswissenschaftern schwieriger zu erreichen erscheint, als sie ist. Wir ernähren uns ja sowieso von Natur aus abwechslungsreich im Schlaraffenland Schweiz – sofern uns eben niemand dreinredet und wir denn nicht Veganer, Clean Eater, No Carber sind oder eine Paläo-Diät machen, bei der man entgegen seinen Köperbedürfnissen alles Mögliche weglassen muss. Das kann gefährlich werden.

Wieso stürzen sich die Leute immer wieder auf solche neue Ernährungstrends?

Über den Teller kann man sein Leben sehr schnell verändern und findet auch innert kurzer Zeit Anschluss an eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Diese Besser-Esser-Stile sind eine Art kulinarische Diaspora. Wie in einer Religion gibt es klare Regeln sowie eine klare Verortung von Gut und Böse. Andere fallen auf das Versprechen ewiger Gesundheit oder Schlankheit herein.

Es gibt immer weniger dicke Leute und vor allem weniger dicke Kinder – so falsch können die modernen Ernährungstipps nicht sein.

Wieder so eine Spekulation. Und was ist mit mehreren grossen aktuellen und unabhängigen internationalen Studien, die unisono zeigen, dass der Schokoladen- und Süssigkeitenkonsum von Kindern keinen Einfluss auf ihren Body-Mass-Index hat? Vielleicht hat sich ja auch unser Freizeitverhalten verändert, weniger Fernsehen, mehr Bewegung. Vielleicht essen wir generell weniger, weil wir andere Essrituale entwickelt haben. Vielleicht hat auch das permanente, konzentriert-fokussierte Handygehabe beim Nachwuchs einen Einfluss. Man weiss es einfach nicht.

Wie stehen Sie zur Zucker-Debatte: Ist die kindliche Vorliebe für Zucker angeboren oder antrainiert?

Muttermilch schmeckt süsslich, die Vorliebe für Zucker ist angeboren. Lange wurde Fett gern als der böse Bube abgestempelt, der uns krank macht. Nun ist die Reihe am Zucker. Doch Zucker ist nicht böse, wie gewisse Leute uns weismachen wollen. Unser Hirn ernährt sich ausschliesslich von Glukose, also von Zucker.

Es geht allerdings nicht um den Zucker per se, sondern um die Menge und den versteckten Zucker in Produkten.

Das sind frei erfundene Probleme, um den Menschen Angst zu machen. Es gibt in der gesamten Wissenschaft keinen einzigen Beweis, dass reiner oder zugesetzter Zucker, in welcher Form auch immer, krank oder dick macht. Auch die kritische Verzehrmenge kennt niemand. Das alles ist nicht mehr als eine kulinarische Hexenjagd. Irgendein böser Bube gehört immer aufs Schafott, und das ist aktuell der Zucker.

Sie sagen auch, dass Diäten nichts bringen.

Schlimmer noch: Sie können der Einstieg in Ess­störungen und Fettleibigkeit sein.

Ich habe mit Low Carb dauerhaft abgenommen.

Dann gehören Sie zu den weniger als 10 Prozent, die es schaffen, ihr künstlich reduziertes Gewicht zu halten. Es kommt letztlich auf die Energiebilanz an. Wenn jemand weniger Kalorien zu sich nimmt, als er verbraucht, dann nimmt er ab. Durch welche spezielle Nahrungsbeschränkung der Energiemangel zustande kommt, interessiert unseren Körper nicht. Sie könnten statt Low Carb auch die gute alte Friss-die-Hälfte-Diät machen, aber die lässt sich halt nicht so gut vermarkten. Allerdings: Menschen, die ihr künstlich reduziertes Gewicht dauerhaft halten wollen, müssen lebenslang auf die Waage achten. Diesen Effort unterschätzen die meisten – und fallen dem Jojo-Effekt zum Opfer, einem Überlebensschutz der Evolution.

Also lieber dick bleiben?

Man kann nicht sagen: Wer dick ist, hat ein Problem. Ein Drittel der adipösen Menschen hat nicht einmal eine Stoffwechselstörung, diese Leute sind von Natur aus dick. Ausserdem hängt die Definition von dick und dünn auch immer von der gesellschaftlichen Epoche ab. Leidet jemand trotzdem unter seinem Gewicht, aus ästhetischen Gründen oder weil er nach einer Treppe ins Schnaufen kommt, sollte er statt einer Diät seine Lebensgewohnheiten analysieren: Wieso sehe ich so aus, wie ich aussehe? Schlafe ich zu wenig? Esse ich aus Einsamkeit oder Frust? Bin ich gar krank? Wie sehen meine Schilddrüsenhormone und mein Kortisonspiegel aus? Die Ausbildung von Adipositas ist stets individuell multikausal bedingt, es gibt keine Standardantworten.

Es scheint fast unmöglich, seine Essgewohnheiten zu ändern – nicht nur bei Diäten. Weshalb?

Jeder kann seine Essgewohnheiten ändern. Die Frage ist, wie weit man sich dabei von seinem eigenen Körpergefühl entfernt. Wahrscheinlich sind viele schmerzvolle Änderungen gar nicht nötig. In diesem Sinne: Bleiben Sie ruhig bei Ihrem kargen Frühstück.

(Quelle: Interview mit Ernährungswissenschaftler Uwe Knop im Tagesanzeiger vom 24.11.2017)